Profil Dr. med. Anne Gürtler

Neurodermitis-Ernährung beim Kind: „Es findet radikales Umdenken statt.“

Interview mit Dr. med. Anne Gürtler, Expertin für Dermatologie und Ernährungsmedizin

17.02.2022
Lesedauer: 4 Min.

Kindern das Naschen zu verbieten und sie an einen strengen Ernährungsplan zu gewöhnen, fällt besonders schwer. Das Verständnis der Kleinen ist – natürlich nachvollziehbar – häufig gering. Aber: Wie streng ist gut? Sollte man überhaupt bestimmte Lebensmittel von klein auf meiden? Hier hat in den letzten Jahren ein radikales Umdenken stattgefunden. Dr. med. Anne Gürtler der dermatologischen Universitätsklinik der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München, gibt spannende Einblicke in die neuesten Erkenntnis über Nahrung und Neurodermitis, speziell in der frühen Kindheit.

Neurodermitis-Ernährung-Kind Armbeuge kratzend

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Ernährung und Neurodermitis?

Kaum eine Hautkrankheit ist gegenüber innerlichen und äußerlichen Einflüssen so anfällig wie das atopische Ekzem. Die genauen Mechanismen wie bestimmte Nahrungsmittel zum Entstehen oder der Aufrechterhaltung eines atopischen Ekzems beitragen können, sind noch nicht vollständig verstanden. Neben der genetisch bedingten Hautbarrierestörung und einer abnormen Abwehrreaktion der Haut können zum Beispiel klimatische Bedingungen, Irritationen durch Kleidung aus Wolle, Staub, Stress und die Ernährung für den Krankheitsverlauf entscheidend sein. Man geht davon aus, dass die erbliche Veranlagung zum atopischen Ekzem durch diese äußerlichen Faktoren zur Ausprägung kommen kann. Zudem wird vermutet, dass durch den Verzehr von gewissen Nahrungsmitteln natürliche Botenstoffe - chemische Substanzen im Körper, die gebraucht werden, um Informationen zwischen Zellen weiterzugeben und zu verbreiten - freigesetzt werden, die eine Verschlechterung der Haut begünstigen können. 

Womit können Sie speziell Eltern mit betroffenen Kindern Mut machen?

Der Einfluss von Ernährung auf das atopische Ekzem wird von Betroffenen und Eltern meist überschätzt. Oft werden bestimmte Nahrungsmittel hinter einer Ekzem Verschlechterung vermutet, obwohl ein Schub viel häufiger durch inkonsequente Basistherapie bedingt ist.

Womit können Sie Mut machen und eine gute Perspektive aufzeigen? 

Hoffnung gibt es insbesondere für Kinder mit gesicherter Nahrungsmittelallergie (s. unten). Oft kommt es bis zum Schulalter zu einer Toleranzentwicklung. Vermutlich bedingt die zunehmende Ausreifung des Verdauungssystems, dass Nahrungsmittelallergene nicht mehr sichtbar sind. 

Gibt es bereits im Kindheitsalter bestimmte Ernährungstipps?

Zum Thema atopisches Ekzem in der frühen Kindheit und insbesondere zum Thema Vorbeugung eines atopischen Ekzems gab es in den letzten Jahren ein radikales Umdenken. Und es wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Während früher sehr langes Stillen und das Meiden von potenziell allergieauslösenden Lebensmitteln propagiert wurde, wird heute eine frühzeitige Auseinandersetzung mit diesen Lebensmitteln empfohlen. Denn scheinbar besteht in den ersten Lebensmonaten ein zeitliches Fenster, in dem der Kontakt zu Lebensmittel zu einer Toleranz führt. Das Folgende wird daher empfohlen: 

  • Stillen von 4 Monaten. Wenn dies nicht möglich ist, sollte kommerziell erhältlicher Milchersatz verwendet werden. 
  • „Kritische“ Nahrungsmittel sollten Kleinkindern frühzeitig angeboten, statt gemieden werden. 
  • Während der Schwangerschaft und Stillzeit sollte die Mutter keine spezielle "Allergie-Diät" einhalten. Im Gegenteil, alle Nahrungsmittel sollten zur Allergieprävention gegessen werden.  
Neurodermitis-Ernährung-Kind mit Milchglas

Wie viele Kinder mit einem atopischem Ekzem haben Nahrungsmittelallergien?

Bis zu zwei Drittel der Kinder mit mäßigem bis schwerem atopischen Ekzem weisen eine sogenannte Sensibilisierung gegen Nahrungsmittel auf (v.a. Ei, Milch, Weizen und Erdnuss siehe unten). Dies wird durch eine Blutentnahme durch den Nachweis sogenannter spezifischer IgE Werte bestimmt. Eine Sensibilisierung zeigt jedoch nur an, dass sich der Körper mit einem Nahrungsmittel auseinandergesetzt hat. IgE Werte können also erhöht sein, obwohl das Nahrungsmittel vertragen wird und keine Verschlechterung an der Haut zu sehen ist. Da IgE Werte in niedriger Konzentration von jedem Menschen produziert werden, ist der Sensibilisierungsgrad und die Art des Allergens entscheidend. 

Sensibilisierung und Nahrungsmittelallergie sind also nicht das gleiche?

Korrekt. Nur etwa ein Drittel der Kinder mit einer Sensibilisierung leidet auch an einer bedeutsamen Nahrungsmittelallergie. Es ist also wichtig den Unterschied zwischen einer Sensibilisierung und einer Allergie zu kennen und zu verstehen. Eine „echte Nahrungsmittelallergie“ vom Soforttyp äußert sich zum Beispiel durch eine akute Rötung und Quaddelbildung der Haut, begleitet von Atembeschwerden, gefolgt von einer Verschlechterung des Ekzems. Manchmal kann diese Verschlechterung auch erst nach 24-72h eintreten. 

HS-Neurodermitis-Ernährung-Allergietest

Die häufigsten Allergene bei Kindern

Aufgrund des vergleichsweisen eingeschränkten Speiseplans von Kleinkindern
bestimmen einige wenige Allergene den Großteil der Nahrungsmittelallergien.

1
Kuhmilch

Führende allergieauslösende Substanzen: Kaseine, alpha-Laktalbumin, beta-Laktoglobulin.

Je nachdem auf welchen Milchbestandteil eine Allergie besteht, kann das Erhitzen von Milch oder ein anderer Tiermilchersatz vertragen werden (z.B. Schaf, Ziege). 

2
Hühnerei

Führende allergieauslösende Substanz: Eiklar

Im Rohzustand stärker allergieauslösend als gekocht. 

3
Weizenmehl

Führende allergieauslösende Substanz: Gluten (80% der Weizenproteine; aus Gliadin, Glutenin, Albuminen und Globulinen). 

Je nach Weizenmehlallergie kann schon das Einatmen von Mehlstäuben zu einer allergischen Reaktion führen. 

Was sind Ihre Top 3 Ernährungstipps für Eltern mit betroffenen Kindern?

Jede Neurodermitis, jedes Kind und jeder Geschmack sind individuell,
grundsätzlich lassen sich aber drei einfache Faustregeln definieren, die auch für betroffene Erwachsene gelten.

  1. Selbst kochen ist stets der einfachste Weg zur bewussten und vollwertigen Ernährung. 
  2. Eine abwechslungsreiche, saisonale, pflanzenfokussierte Ernährung deckt nicht nur den täglichen Nährstoffbedarf, sondern ist allgemein gesundheitsfördernd und auch für die meisten Atopiker geeignet. 
  3. Kindern ohne bestehende Nahrungsmittelallergie sollte kein Nahrungsmittel vorenthalten werden. 

Zum Abschluss: Worauf sollte man zusätzlich zur richtigen Ernährung achten?

Weil ein Schub häufiger durch inkonsequente Hautpflege verursacht wird als durch ein bestimmtes Lebensmittel, ist die Basistherapie das zunächst Entscheidende. Meine drei Tipps:

  1. Zur Milderung der Folgen der Hautbarrierestörung ist eine tägliche Anwendung von Basistherapeutika zwingend erforderlich. Denn auch die augenscheinlich gesunde Haut leidet an einem atopischen Ekzem mit gesteigerter Hauttrockenheit. Daher bleibt ein atopisches Ekzem auch nach Abheilung eines akuten Ekzemschubs bestehen. Basistherapeutika sollten frei von Wirkstoffen-, Duft- und Konservierungsstoffen sein.
  2. Neben einer ausreichenden Basistherapie ist die sogenannte proaktive Therapie für einen langanhaltenden Therapieerfolg entscheidend. Beispielsweise 2x/Woche kortisonfreie, antientzündliche Externa auf bekannte wiederkehrende aktive Ekzemstellen, wie z.B. Ellenbeugen.
  3. In Neurodermitisschulungen lernen Betroffene und ihre Bezugspersonen die Erkrankung zu verstehen sowie vorbeugend und therapeutisch richtig zu handeln. Nur so können Betroffene den Verlauf positiv beeinflussen. 

Wir bedanken uns bei Dr. med. Anne Gürtler für das Interview.

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